Mit meiner Unterschrift würde ich ein Leben zerstören. Ich fühlte mich schuldig.
Für ein Gutachten bearbeitete ich die Akte vom „Schub“ und wälzte zwei überfüllte Ordner. Wie verlegt man einen Menschen mit fast sechzig Jahren „Anstalts-Biographie“? Sein amtlicher Name war Jakob Schubmehl, aber alle nannten ihn kurz Schub, weil er meistens draußen im Blaumann mit einer Schubkarre unterwegs war. Er hatte die Altersgrenze erreicht, deshalb sollte er in eine „für seine Cohorte angemessene Einrichtung“ umziehen. So lautete die behördliche Anordnung. In den ältesten, vergilbten Papieren war als Diagnose noch „Angeborener Schwachsinn“ zu lesen. Ich war leitender Arzt in unserer Klinik, die längst nicht mehr „Anstalt“ hieß wie damals bei seiner Aufnahme.
Schub gehörte zum Alltagsbild. Er hatte immer hier gewohnt. Früher in einem Doppelzimmer, nach dem Tod seiner Mutter wurde es zum Einzelzimmer umfunktioniert. Sommers wie winters arbeitete er im Park, schippte schwersten Schnee, kratzte Eis vom Asphalt, selbst da, wo kein Gehweg mehr war. Er rechte stundenlang Laub und Gras, kehrte endlose Wege, versorgte die Pfauen in der Voliere. Abends belohnte er sich mit Feierabendbier, welches man ihm längst zur Vermeidung von Sturzgefahr alkoholfrei ausgab. Auch hierüber müsste ich berichten.
An dem Tag, der für Schub alles verändern sollte, stand ich im Büro zusammen mit unserem Hausmeister und las ihm das Amtsschreiben vor.
„Das können die doch nicht wollen!“, hatte er gesagt.
„Doch, können die.“
„Wie stellen Sie sich das vor?“ Galt seine Frage mir als Mensch oder Psychiater? Nein, ich hatte mir das nicht nur vorzustellen, ich hatte es zu vollziehen: Es waren ein formales Anschreiben an die Behörden zu konstruieren, Überweisungspapiere zu autorisieren. Jemand müsste dem Schub ins Gesicht sagen, er habe umziehen weil zu alt und weil er den Schubkarren unsicher lenkte, und so weiter. Schließlich waren wir übereingekommen, dass er - der Hausmeister - es dem „Kleinen“ beibringen sollte. Schub sei ihm als sein Gehilfe wesentlich näher.
Drei Wochen bevor Schub hätte entlassen werden, durchquerte ich das Klinikgelände, weil ich aufgrund eines Notfalls in die Ambulanz gerufen wurde. Instinktiv sah ich unterwegs zu den Pfauen hinüber. Dort stand die Tür der Voliere offen. Halb drinnen, halb draußen redete einer auf den kleineren Mann ein, beide in Arbeitskluft. Der Große verwehrte dem Kleinen den Zutritt. Augenblicklich war mir klar, worum es ging, ohne auch nur ein einziges Wort ihres Streits verstanden zu haben. Aber wegen des Alarms musste ich schnell weiter eilen.
Am nächsten Morgen hatte ich den Hausmeister zu mir gerufen.
„Was war denn los am Gehege?“
„Ich hab dem Schub gesagt, dass er die Vögel nicht mehr füttern soll, das haben wir ja so abgesprochen.“
„Stimmt.“
„Schub, ich übernehme das jetzt, ok?, hab ich gesagt. Wieso?, hat er gefragt. Weil - die Hühner sind nicht gut versorgt; dass er halt auch älter wird und vergesslich und so. Doch, meint der patzig. Ich hab die gut versorgt! Fängt er an, zornig zu werden. So kenn ich den gar nicht. Dann hat er mich aus dem Gatter rausgedrängt, den Schlüssel gezogen und ist weg; ohne einen Ton.“
„Schub ist im Krankenhaus.“
Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Daraufhin hatte der Hausmeister seine Arbeitshandschuhe gegen mein Pult geschlagen und ist gegangen.
Mit Sicherheit ist es nicht der Große gewesen. Den Hausmeister traf kein Vorwurf. Er arbeitete mit Menschen, nicht mit Akten. Aber jemand hatte dem Schub das Bier abgegeben. Fünf große Flaschen, viel zu viel Alkohol für den alten Mann. Die Nachtwache hatte ihn lange suchen müssen, er war nicht wie gewohnt in der Sitzecke im Flur gewesen. Auf dem letzten Dokument, das im Ordner abgeheftet worden ist, gab es ein Häkchen bei „Sturz mit schweren Folgen.“
Schub war nicht mehr zurückverlegt, seine Ordner ins Archiv gebracht worden. Einen richtigen Abschluss mit der Akte des Schub vermochte ich nie zu finden.
Ausnahmslos
ja alle
ohne ausnahme
nein keine ausreden
du kannst es
am besten gleich
beginne
mit meinem
kleinen bruder
dem großvater
meiner mutter
du hast ihnen
die stimme genommen
das leben
sie fehlen
so lange schon
zu lange
dieses eine mal
sei gerecht
ungerechter tod
Der dritte Tag jetzt schon. Tage ohne Licht – ohne Hoffnung. Der Aufgang nach oben verschüttet. Sie können nicht zurück in ihre Wohnung. Der Lichtschacht vor dem Kellerfenster halb gefüllt mit Steinen und Geröll. Durch die Scheiben nur spärlich etwas Helligkeit, gerade genug um Tag und Nacht zu unterscheiden. Auf dem Boden Wasser. Die Leitung muss getroffen worden sein. Sie haben Holzkisten übereinandergestapelt, auf denen sie sitzen: die achtjährige Maria, eng an ihre Mutter gekuschelt, mit vor Schreck geweiteten Augen. Mama Olga kann das Zittern ihrer Arme, mit denen sie das Kind schützend umfängt, nicht unterdrücken.
Zu heftig war der Bombeneinschlag, der das ganze Haus über ihnen zusammenfallen ließ.
Nur eine Flasche Mineralwasser und ein paar Äpfel wollten sie nach oben holen. Jetzt sitzen sie in der Falle, einem unerbittlichen Schicksal ausgeliefert. Mit den Äpfeln bekämpfen sie den Hunger. Doch die werden nicht mehr lange reichen. Vier Flaschen Wasser haben sie noch. Was dann? Olga will gar nicht weiterdenken. Sie bemüht sich, Maria bei Laune zu halten.
Ein Weilchen gelingt es. Maria sagt ein Wort, Olga sucht ein Reimwort dazu: Bein – klein, Bahn – Hahn. Doch irgendwann funktioniert es nicht mehr – auch nicht das gegenseitige Hände-Klatsch-Spiel oder das Finden von Wörtern mit a, o, u, e, i.
Die Kälte kriecht an ihnen hoch. Keine Decke, nichts um sich zu wärmen. Nirgends die Möglichkeit sich einmal auszustrecken.
Doch sie wollen nicht aufgeben.
Lass uns beten, sagt Olga, vielleicht hat der liebe Gott Erbarmen mit uns.
Oder singen, meint Maria, dann ist es nicht so totenstill. Olga nickt und Maria beginnt mit zittriger Stimme zu singen „Meerstern, ich dich grüße, o Maria hilf … Maria hilf uns allen aus unsrer tiefen Not“. Es ist ihr Lieblingslied.
Da – ein Geräusch. Maria verstummt abrupt. Oben auf dem Lichtschachtgitter – Männerbeine – Uniformhosen – russische Uniformen. Erstarrt vor Schrecken erkennen sie einen zweiten Mann, er bleibt auf dem Gitter stehen.
Da drin ist noch Jemand, hören sie den Ersten sagen.
Los, eine Granate macht dem Spuk ein Ende, flüstert der Andere.
Nicht nötig, das Problem löst sich von selbst. Die Granate brauchts nicht. Das ist Verschwendung, wieder der Erste.
Im Keller verstehen sie jedes Wort, in der Ukraine zuhause, doch russisch sprechend, wie viele hier. Ganz verzweifelt drückt Olga ihre Maria an sich. Beide Schreckensszenarien wechseln sich in ihrem Kopf ab: die Granate … ein schnelles Ende, oder langsam zugrunde gehen im dunklen Keller. Wie soll sie dem Kind Hoffnung vorheucheln.
Schlaflos die bitteren Stunden in der folgenden Nacht – bis plötzlich im Morgengrauen ein Geräusch Olga aufschreckt. Da rüttelt Jemand an dem Gitter über dem Lichtschacht, schafft mühsam Geröll beiseite, versucht das Gitter anzuheben. Es ist einer der beiden Russen. Sie hält den Atem an.
He, lebt ihr noch da unten, hört Olga ihn flüstern. Habt ihr eine Zange? Das Gitter ist verdrahtet mit dem Untergrund. Ich will versuchen, es hochzuheben, wenn ihr die Drähte kappen könnt.
Olga traut ihren Ohren nicht. Sollte es wirklich einen Ausweg geben aus der so hoffnungslosen Situation? Was hat der Russe vor? Am Ende liefert sie sich und Maria den Feinden aus. Man weiß ja, was die mit Frauen machen. Auch kleine Mädchen verschonen sie nicht. Aber im Keller würden sie auch elendiglich sterben. Sie muss es wagen.
Der Handwerkskasten! Sie findet eine Drahtschere, kann das Fenster öffnen, wird dabei von einer Ladung Geröll und Schutt erfasst, kann sich jedoch halten, steigt auf eine Kiste und versucht die Drähte, die die Gitter mit dem Betonboden verbunden haben, zu kappen.
Was mach ich da, schießt es ihr nochmal durch den Kopf, während sie den Mann mit dem Gewehr ihn der Hand fixiert.
Maria klammert sich an Olgas Rock und schluchzt.
Mit Bärenkräften zerrt der Russe an dem Gitter – es gibt nach. Er kann es wegziehen. Vier Augen starren ihn ungläubig an.
Los, schnell raus, ruft er, reicht den Beiden die Hand und weist hektisch auf die andere Straßenseite. Ab mit euch, da rüber, das Haus ist noch bewohnt. Ich muss auf euch schießen, wenn ihr flieht. Aber ich treffe nicht. Keine Angst.
Ratlosigkeit macht sich breit. Es war das Lied, hören sie ihn noch sagen. Wie in Trance setzen sie sich in Bewegung. Ihre Beine wollen ihnen noch nicht so recht gehorchen nach dem langen Ausharren im kalten Keller.
Schon ballert der Russe los, doch seine Schüsse gehen ins Leere, wie versprochen.
Im Kugelhagel erreichen sie das Nachbarhaus. Eine Tür öffnet sich, doch ehe sie dahinter verschwinden, winken sie mit Tränen in den Augen dem Feind zu, der keiner war, wie sie mit Dankbarkeit wahrnehmen. Olga wünscht von ganzem Herzen, dass dieser heldenhafte Retter seine Aktion nicht mit dem Leben bezahlen muss.
Im Nachbarhaus keimt in ihr ganz behutsam Hoffnung auf, dass auch der schlimmste Krieg nicht alle Menschlichkeit verschluckt, dass es immer wieder auch Feinde geben mag, die Menschen geblieben sind.
Wo ist Heimat?
Sollt ich, ach das traute Wort
mit Bild und Seele füllen,
muss es nicht am fernen Ort
dem Sehnen erst entquillen?
Schwer ist‘s wohl ins Wort zu fassen,
was allein das G‘fühl bewegt.
Sind‘s die altvertrauten Gassen,
die Turmuhr, die so heimelnd schlägt?
Ist‘s der Wiesen stiller Grund,
der so frühlingsfroh erblüht,
ist‘s des Parks beschaulich Rund,
das im Herbst so flammend glüht?
Ist‘s der weg, der lieblich enge,
wo junge Liebe einst beglückt,
sind‘s des Kirchleins Glockenklänge,
der Birkenhain, der mohngeschmückt?
Ist‘s der Anger nah dem Städtchen,
der uns Kindern Mitte war,
wo zum Reigen hold die Mädchen
Kränzchen trugen schmuck im Haar?
Ist‘s Elternhaus, wo froh und schlicht
die Liebe treu gewaltet,
das Ja zu Anstand, Recht und Pflicht,
auch zu‘n Musen ward entfaltet?
Sind‘s die meist so frohen Runden
im eng verwobnen Freundeskreis,
wo man auch in bittren Stunden
wich teilnahmsvoll gehalten weiß?
Ist‘s da, wo übern Gartenzaun
der Nachbar erste Veilchen reicht,
der kurze Plausch je voll Vertraun,
wie Morgenwind die Seele streicht?
Ist‘s wohl der Teich, auf dem gar sacht
strahl‘nden Himmels Blau zerfließt,
der volle Mond zur G‘stirnten Nacht
den seid‘gen Spiegel zärtlich küsst?
Ist‘s gleicher Sprache trautes Klingen,
sind‘s die Menschen, die man liebt,
Lieder auf der Muse Schwingen,
was das G‘fühl der Heimat gibt?
Wollten wir auch eifrig binden
die Bilder all zum Deutungsstrauß,
er wird das Wort nnicht voll ergründen,
schöpft nicht seine Tiefe aus.
Heimat ist, wo Halt und Güte,
Geborgenheit, Daheimsein ist,
wo des Menschseins edle Blüte,
die Heimatliebe, sich erschließt.
Wer Heimat hat verlassen müssen,
weiß um dieses hohe Gut.
Wir sollten um den Segen wissen,
der in ihm, dem Kleinod, ruht.
Doch – nimmer muss der Schatz zerrinnen,
wenn vom lieben Ort wir scheiden.
Heimat lässt sich neu gewinnen,
wo zum Willkomm sich Arme breiten.
Hier kann aus gleichem Wurzelgrund
das schöne G‘fühl erneut erblühn.
An jedem Ort tut‘s gern sich kund,
wo Menschen sich um Menschen mühn.